R. Schmid: Geschichte im Dienst der Stadt

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Titel
Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter


Autor(en)
Schmid, Regula
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
357 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Martin Zahnd

Seit ihrer Dissertation über Thüring Frickers Darstellung des Berner Twingherrenstreites 1) hat sich Regula Schmid immer wieder mit der Geschichtsschreibung in eidgenössischen Orten des Spätmittelalters beschäftigt. Auch mit ihrer Habilitationsschrift, die von der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich 2008 angenommen worden ist und deren Druckfassung es hier zu rezensieren gilt, bewegt sich die Autorin in diesem thematischen Umfeld. Sie bemüht sich, die amtlichen Historien eidgenössischer Kommunen aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert in ihrem sozialen und institutionellen Kontext zu verstehen, fragt danach, wie diese Historien im politischen Alltag verstanden und eingesetzt worden sind, und wirft einen kritischen Blick auf die heute gebräuchlichen Chronik-Editionen und die zeitspezifischen Forschungszusammenhänge, in denen diese Ausgaben entstanden sind.

In einem ersten Teil (Die selbstbewusste Stadt und ihre Geschichte, S. 11–48) beleuchtet Regula Schmid die Forschungslage zur spätmittelalterlichen Stadtchronistik, stellt die verwendeten Textausgaben vor, fragt nach den Charakteristika einer «amtlichen» Chronistik und begründet die methodischen Leitlinien ihres Vorgehens.

Im zweiten Teil (Erscheinungsformen amtlicher Historie in Freiburg, Bern, Luzern, Zürich und Basel 1350–1550, S. 49–195) werden die verschiedenen Formen und die einzelnen Werke, in denen Geschichte festgehalten worden ist, aufgelistet und unter die Lupe genommen. Einerseits geht es dabei um Chroniken (Chronikbücher), um chronikalische Nachrichten in Ratsbüchern (Stadtbuchchronistik) und um die sog. historischen Volkslieder (politische Ereignislieder), andererseits um Historienbilder, Fresken und historische Inschriften.

Im dritten Teil wird nach der Einbindung der Historien, insbesondere der Chronikbücher und der Stadtbuchchronistik, in den sozialen und politischen Alltag eidgenössischer Orte im Spätmittelalter gefragt (Funktionen amtlicher Historien, S. 197–310). Thematisiert werden Intentionen der Autoren und der Auftraggeber, allfällige Kontrollen und Interventionen aus Ratskreisen während der Arbeit an den Historien und der Wahrheitsanspruch der Werke. Als Referenzfall wird in diesem Zusammenhang der Entstehungsprozess der Berner Chronik Valerius Anshelms aufgerollt. Am Beispiel der in Auftrag gegebenen bzw. geplanten Schriften zu den Reformationswirren im östlichen Oberland aus Unterwalden und Bern (Brünigzug 1528) zeigt die Autorin, welche Rolle historischen Darstellungen im konkreten Konfliktfall als Mittel politischer Argumentation zugemessen worden ist.

Eine den zeitlichen und räumlichen Horizont öffnende Zusammenstellung der
Untersuchungsergebnisse (Amtliche Historie und politische Kultur, S. 311–317), die üblichen Quellen- und Literaturangaben, ein Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen und ein Namen, Orte und Sachbegriffe umfassendes Register beschliessen den Band (S. 319–357).

Regula Schmid legt mit ihrer Publikation zur städtischen Chronistik im Spätmittelalter eine anregende, in verschiedenen Bereichen neue Einsichten eröffnende Arbeit vor, die nicht nur Fragen klärt bzw. darauf hinweist, wo Forschungsdesiderate liegen, sondern auch Anstoss zu intensiven Diskursen geben wird.

Zu den Meriten der Untersuchung zählt zweifellos, dass die Autorin als historische Darstellungen aus dem Spätmittelalter – sie verwendet dafür durchaus plausibel den aus der mittelalterlichen Rhetorik übernommenen Begriff «Historie» – nicht nur in herkömmlicher Weise Chroniken ins Auge fasst, sondern zeigt, dass auch historische Notizen in Ratsbüchern und vor allem Inschriften an Gebäuden und Brunnen oder Bilder in Ratsstuben und an Fassaden in hohem Masse geeignet waren, als Identifikationsangebote für breitere Bevölkerungsgruppen zu dienen.

Lobenswert ist zudem, dass in der Arbeit von Regula Schmid die Gattung «Stadtchronik» nicht einfach auf Grund willkürlich ausgewählter Exempla beschrieben wird, sondern alle fassbaren Beispiele aus einem bestimmten Gebiet (d.h. den eidgenössischen Städten) untersucht werden. Dadurch wird vermieden, dass immer wieder die gleichen Werke aus denselben Kommunen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und so den Blick auf den Alltag historisch-politischer Kommunikation verzerren.

Interessant sind die Ausführungen über den Entstehungsprozess der amtlichen Chronik von Valerius Anshelm: Die Autorin weist – zumindest für den ersten Teil der Chronik – vier Arbeitsgänge nach (Materialsammlung, erste Fassung auf Papier, zweite Fassung auf Papier, Reinschrift auf Pergament), die deutlich an die Arbeitsweise von Aegidius Tschudi erinnern. Damit wird zugleich gezeigt, wie nötig eine Neu-Edition von Anshelms Berner Chronik wäre, die heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen einigermassen zu genügen vermöchte.

Dass die Arbeit von Regula Schmid auch Anlass zu Fragen und Widerspruch gibt, liegt in der Natur der Sache und ist durchaus auch positiv zu vermerken. Dabei geht es hier nicht darum, Kleinigkeiten aufzulisten wie unkorrekte Namen von Personen oder Örtlichkeiten oder allzu sichere Funktionszuordnungen (Schultheissenpforte des Berner Münsters) und Quellencharakterisierungen (Bericht von der Laupenschlacht bei Justinger). Zu diskutieren wäre vielmehr Grundsätzliches: Wären zu den Medien, die Historien zu vermitteln und zu tradieren hatten, nicht auch Theaterspiele (z.B. Tellenspiel) zu zählen? Oder: Was sind «amtliche» Geschichtswerke im 15./16. Jahrhundert? Die Autorin definiert «amtliche» Historien auf Grund eingehender theoretischer Überlegungen als Werke, «an deren Entstehung, Erwerb oder Veränderung die städtische Regierung als Ganzes beteiligt war. Sichtbarstes Zeichen für die Aneignung historischer Darstellung ist in der Regel die Entschädigung aus der kommunalen Kasse […]» (S. 51; zudem S. 24). Sosehr diese Definition als theoretischer Ansatz zu überzeugen vermag, bei der Übertragung des Begriffs auf die historischen Überreste ergeben sich Schwierigkeiten: Weshalb wird die sog. Grosse Burgunderchronik, die Diebold Schilling gemäss der neueren Forschung als «Buchhandelsfassung» geschrieben haben soll und die entsprechend auch als Privatarbeit verkauft worden ist, dadurch zur amtlichen Historie, dass der Käufer 1486 der Rat von Zürich war? Am Inhalt und an der Intention der Darstellung änderte sich durch den nach dem Tode des Autors erfolgten Verkauf der Chronik nichts, und damit sie als Mittel politischer Kommunikation eingesetzt werden konnte, sollte sie – nach dem ausdrücklichen Willen des Zürcher Rates – korrigiert und verbessert werden! Und im Gegenzug: Nach neuester Forschungsmeinung entstand die sog. Amtliche Chronik Diebold Schillings nicht auf Grund eines expliziten Rats-Auftrages, sondern im Rahmen der Zunft zu Distelzwang, wo verschiedene Kleinräte als Stubengesellen des Chronisten den Kanzlisten nicht nur zur Weiterführung seiner historischen Arbeiten anregten und deren Inhalt mit dem Autor diskutierten, sondern wohl auch die Finanzierung der prunkvollen Handschrift sicherstellten, die 1483 vom Rat als «amtliche» Chronik entgegengenommen wurde. Handelt es sich demnach gemäss Definition von Regula Schmid um eine amtliche oder doch eher um eine private Historie? Es ist unverkennbar: Das moderne Bedürfnis nach Unterscheidung von amtlichen, öffentlichen, offiziösen und privaten historischen Arbeiten aus dem Spätmittelalter lässt sich angesichts der konkreten Überreste nur in Ausnahmefällen umsetzen, weil sich im 15./16. Jahrhundert die Sphären des Amtlichen und des Privaten in vielen Bereichen überschnitten und durchdrangen, weil sie eben weitgehend ungeschieden waren. Wie diese Historien terminologisch angemessen zu fassen wären, ob sich allenfalls auf einengende Kategorisierungen verzichten liesse, wird Gegenstand künftiger wissenschaftlicher Diskussion sein; Regula Schmid hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet.

1) Schmid, Regula: Reden, rufen, Zeichen setzen. Politisches Handeln während des Berner Twingherrenstreites 1469–1471, Zürich 1995.

Zitierweise:
Urs Martin Zahnd: Rezension zu: Schmid, Regula: Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter, Zürich, Chronos Verlag, 2009, 357 S. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 3, Bern 2009, S. 122ff.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 3, Bern 2009, S. 122ff.

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